Die meisten Republiken der ehemaligen Sowjetunion entwickelten sich nach dem Sturz des Kommunismus nach einem gleichen Schema. Wegen des Fehlens der wirklich demokratischen stabilen Regime wurden die jungen Leiter, die in diesen Staaten an die Macht gekommen waren, nach einer kurzen Zeit der Demokratie zu Autokraten, die an ihren Stellen aufgrund von Bestechung der Wählerschaft klebten.
Wir haben schon den Fall des weißrussischem Präsidenten Alexander Lukaschenko(1) betrachtet. Diesmal geht um den kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew, Staatsoberhaupt seit 1991.
Das Besondere dieses Werkes besteht darin, dass es nicht von einem Dissidenten, sondern von einem Menschen geschrieben wurde, der für Nasarbajew tätig war und lange Zeit wichtige Aufgaben erfüllt hatte. Viktor Chrapunov gehörte als Energiewirtschaftsminister, später – Bürgermeister der Stadt Almaty (ehemalige Staatshauptstadt Alma-Ata), Gouverneur von Ost-Kasachstan, Minister für außerordentliche Angelegenheiten zu den ersten Personen, die dem Nasarbajew-Klan bei der Versklavung des Landes geholfen haben, und das, wie er jetzt behauptet, erschreckte ihn damals immer wieder. Er wurde zu einem «Hindernis für die Gier von Nasarbajew und seiner Familie» und, weil er um seine eigene Sicherheit fürchtete, ist er 2007 in die Schweiz geflohen, wo er bisher lebt.
Chrapunov ist ein Teil der russischen Minderheit, die in Kasachstan lebt. Die Russen leben dort seit dem 17. Jahrhundert, aber die Familie des Autors hat sich dort erst Anfang des vorigen Jahrhunderts angesiedelt. Er nutzte die Möglichkeit und erinnerte sich in den Erzählungen seiner Familie über die heftige und komplizierte Geschichte des Landes, mit dem Stalin so schlimm umgegangen ist.
Kasachstan wurde wie auch die Ukraine politisches Opfer einer künstlich geschaffenen Hungersnot. Diese Politik führte Stalin in den 30er Jahren in Bezug auf die Bevölkerung: so sind zu der ersten Million Hungertoten der Jahren 1919-1932 die anderthalb Millionen hinzuzufügen, die Anfang der 30er Jahren verstorben sind. Stalin hat sich außerdem bemüht, keine monoethnischen Republiken in Zentralasien entstehen zu lassen. Das Territorium wurde mehrmals geteilt, die Völker wurden zusammen gruppiert, die sich oft feindlich gegenüber standen. Später hat er, um die einheimische Bevölkerung ein bisschen zu «verdünnen», nach 1936 mehrere Millionen deportierter Personen aus allen Ecken der UdSSR angesiedelt, die ihrem Schicksal ohne Brot und Dach über den Kopf überlassen wurden; die Hälfte von ihnen verstarb. Die Region wurde zu einem Anhängsel sibirischer GULAGs(2). Die Russifizierungspolitik schwächte zusätzlich die kulturelle Urwüchsigkeit des Landes.
Chruschtschow setzte in 60er Jahren diese Politik fort. Er hat die Grenzen erneut geändert und zirka eine Million Slawen im Rahmen seiner bekannten Politik der «Neulanderschließung» angesiedelt. (Die «Neulanderschließung» ist im Laufe der der Zeit gescheitert). Die Kasachen wurden so zu einer nationalen Minderheit im eigenen Land.
Der Autor beschreibt außerdem den riesigen Schaden für die Umwelt, der durch die sowjetische Vergangenheit verursacht wurde. Kasachstan besitzt reiche Vorkommen an Bodenschätze: Kohlenwasserstoffe, Uran, Zink, Titan … Hier wurden zahlreiche Militärbasen organisiert: «In einigen Jahren, – schreibt der Autor, – wird mein Land ein Anhängsel, das Rohstoffe für die gigantischen rüstungsindustriellen Komplexe der Sowjetunion liefern wird». Gleichzeitig hat Moskau befohlen, Baumwolle anzubauen. Sie ist Hauptrohstoff der Textil-Industrie und wurde in gewaltigen Monokulturen angebaut, die einen Teil des Landes ruiniert und den Boden erschöpft haben.
Die Erzählung des Autors über das Leben seiner Familie und über sein eigenes Leben, auch wenn nicht so viele Einzelheiten zu entdecken sind, bleibt trotzdem sehr interessant, wie z.B. die Auswirkung historischer Ereignisse auf seinen Lebenslauf: «Einer meiner Großväter emigrierte, der andere Großvater wurde erschossen, der Vater wurde während der Säuberungen verhaftet– was kann noch gewöhnlich und banal in der tragischen Geschichte sowjetischer Familien sein?»
Der Autor verbrachte seine Kindheit und Jugend in Almaty, er studierte erfolgreich an der technologischen Fakultät und wurde 1985 als Hauptingenieur der Stadtkommunikation eingestellt. Seine Arbeit wurde schnell anerkannt: in 1986 wurde er Leiter eines der Stadtbezirke.
Seine Kariere fällt mit der Perestrojka-Zeit von М. Gorbatschow und auch Nursultan Nasarbajew zusammen. Nasarbajew war nicht besonders gebildet, aber Breschnew hat ihn entdeckt und er wurde 1979 Sekretär des Zentralkomitees der kommunistischen Partei Kasachstans. Er wurde 1986 von Gorbatschew bestellt, um Dinmuchamed Kunajew abzusetzen, der Kasachstan 22 Jahren lang regiert hat, Kunajew wurde öffentlich kritisiert. Der Trick hatte Erfolg: Kunajew wurde seiner Stelle enthoben und durch Gennadij Kolbin ersetzt, der das Land bis 1989 regierte, und Nasarbajew wurde Premierminister. Als 1989 der Sowjet der Volksdeputierte einberufen wurde, zu dem neben den Kandidaten der kommunistischen Partei auch unabhängige Kandidaten kandidieren konnten, wurde Nasarbajew, der damals als Demokrat und Reformator galt, als Deputierter gewählt. Das Zentralkomitee hat ihn später in Mai zum ersten Sekretär der kommunistischen Partei Kasachstans gewählt.
Nasarbajew wurde schließlich 1990, als Gorbatschew Präsident der UdSSR wurde, durch den obersten Sowjet der Republik zum Präsident Kasachstans gewählt.
Mit dem Zusammenbruch der UdSSR floss eine Enthusiasmuswelle durch Kasachstan. Durch die Wiederherstellung des politischen Lebens steigerte Nasarbajew seine Popularität. Im Oktober 1990 wurde die Souveränität Kasachstans erklärt, und Nasarbajew stellte sich an die Spitze der Regierung. Er umgab sich mit getreuen Personen, die nach Meinung des Autors ein «Hofteam» bildeten. Seiner Meinung nach hat Nasarbajew gerade in dieser Zeit die Grundlagen seiner zukünftigen Autokratie gelegt.
Es geht vor allem um die politischen Grundlagen: «Er hat die bestehenden Kontrollorgane beseitigt und wesentlichen durch den Zusammenschluss von Regierungs- und Präsidenten-Apparat den Weg für den Machtmissbrauchen geebnet.“
Es geht auch um die wirtschaftlichen Grundlagen: 1990 gründete er einen Wirtschafts- und Sozialrat. Es wird allgemein angesehen, dass er mit diesem Rat die Abwicklung des Programms zum Übergang zur Marktwirtschaft leitete.
Am 1. Dezember 1991 wurde zum ersten Mal in Kasachstan ein Präsident in allgemeinen Wahlen gewählt. Der einzige Kandidat war Nasarbajew, er erhielt 99% der Stimmen. Am 16. Dezember erklärte sich Kasachstan für Unabhängig.
Nasarbajew hatte damals die volle Unterstützung des Volkes. Was sind die Ursachen? Man muss erwähnen, dass nach dem Ende des Kommunismus Tausende Menschen ausgesiedelt sind. Die Russen sind vor allem nach Russland, Ukrainer in die Ukraine, Juden nach Israel ausgesiedelt … Nasarbajew forcierte eine nationale Identität, er spielte die antirussische «Karte» und ermutigte Kasachen aus dem Exil zurückzukehren. Diese Oralmänner („Zurückkommenden“) kamen aus China, der Mongolei, Usbekistan, dem Iran … zurück. Es waren arme und schlecht gebildete Leute, die vollkommen von den Mächtigen abhängig waren, weil diese ihnen die Mittel zur Existenz gaben. Diese Mittel bildeten oft den Anreiz für den Zuzug. Die Demographie im Land ändert sich: die Kasachen, die bisher eine Minderheit (30% von ganzen Bevölkerung 1959) waren, wurden zur Mehrheit.
Zwei Eigenschaften, die nicht ganz neu sind, charakterisieren die Entwicklung Kasachstans nach 1991: eine gestärkte persönliche Macht Nasarbajews und die sich entwickelnde Korruption.
Der Autor beweist, dass das neue Staatsoberhaupt sehr schnell das, was Putin «die Senkrechte der Macht» nennt, ausbaute. Seit 1992 schränkte er die Befugnisse der lokalen Behörden ein, indem er das Amt des «Oberhaupt der Gebietsadministration» schuf. Diese «Oberhäupter» wurden von Nasarbajew persönlich eingesetzt. Alle Exekutivämter wurden von ihm kontrolliert.
Er tat alles, um die Gegner seiner Macht zu unterdrücken. Gerade deshalb ist er sehr früh gegen den obersten Sowjets (das heißt, gegen des Parlaments) vorgegangen und konnte erreichen, dass die Parlamentarier entmachtet wurden. Viktor Chrapunov beteiligte sich daran; er hielt dies für nötig, da die meisten Parlamentarier alte Kader aus der sowjetischen Epoche waren und die Demokratisierung bremsten. Aber einige Jahrzehnte später bedauerte er seine Beteiligung. «Wir haben uns irgendwie unabhängig von unserem eigenen Willen an der Umwandlung Kasachstans in einen autoritären Staat beteiligt».
Die Stärkung des autoritären Führungsstiels führte auch zur Änderung der Verfassung. Die erste Verfassung, verabschiedet 1993, gab dem Obersten Sowjet noch im vollen Umfang die gesetzgebende Macht und der Oberste Sowjet musste Beschlüsse des Präsidenten genehmigen. In der Verfassung wurde auch festgeschrieben, dass der Präsident maximal zwei Amtszeiten von je fünf Jahre sein Amt bekleiden darf. Aber sehr bald wollte Nasarbajew seine Machtbefugnisse erweitern. 1995 organisierte er ein Referendum, zur Verabschiedung einer neuer Verfassung. Die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten wurde abgeschafft. Zusätzlich wurde der Senat als Versammlung des kasachischen Volks geschaffen, ein Teil der Mitglieder wird durch den Präsidenten ernannt. Weiter kann er alle wichtigen Ämter selbst besetzen: Minister, Botschafter, Gebietsgouverneurs, Präsident der Zentralbank… Er kann auch Gesetze als Dekrete verabschieden. «Kaum konnte er Nursultan Nasarbajew bleiben, ohne seine eigenen Leute zur Festigung seiner persönlichen Macht auf allen Ebenen einzusetzen.»
1999 wurde er erneut mit 81% der Stimmen gewählt, (11,9% – erhielt der Führer der Kommunisten Abdilin), 2005 – 90% der Stimmen und 2011 – 95,5 % der Stimmen. Bestechung spielte offenbar eine entscheidende Rolle beim Erreichen solcher nie dagewesenen Ergebnisse.
Der Transformationsprozess der Wirtschaft wurde nach russischem Vorbild vorgenommen, der auch den rasanten Anstieg der Korruption erleichterte.
Der Autor führt einige Beispiele zur Bereicherung Nasarbajews an der Wirtschaft des Landes an. So hat es die Regierung in den ersten Jahren des Übergangs zu einem neuen Wirtschaftsregime angesichts von Anfangsschwierigkeiten, vertrauten Personen erlaubt, Rohstoffe ins Ausland zu verkaufen, um aus den Erlösen das Volk zu ernähern. Hierbei hat es sich um Vertrauten und Verwandten von Nasarbajew gehandelt, und diese haben dieses Manna vom Himmel ausgenutzt.
Danach kam die Privatisierung. Chrapunov ist hier exakt: «Ich kann behaupten, dass im Jahr vor der Privatisierung das Land bewusst so verwaltet wurde, dass die Industrie- und Landwirtschaftsaktiva Kasachstans kleingerechnet wurden, um diese später einzunehmen und spottbillig zu kaufen.»
Die erste Privatisierungswelle wurde vom ersten Berater Nasarbajews, Dr. sc. Chang Jun Ban, südkoreanischen Staatsangehörigen mit chinesischen Wurzeln organisiert – er hat ein Modell angeboten, dass Anatolij Tschubajs in Russland angewandt hatte. Die Kasachen wurden durch die Verteilung der «PIKs» (Privatisierungs-Investitionsvouchers) genau wie die Russen mit ihren Vouchers betrogen.
Die zweite Privatisierungswelle betraf die Unternehmen der Schwerindustrie. Chrapunov als Energieminister hat die Ressource des Staates verkauft und sich manchmal an ihrer Ausbeutung beteiligt. Er hat gezeigt, wie der Präsident die Übergabe dieser Unternehmen an die Gesellschaften, die seiner Familie gehörten, organisiert hat, und wie dieser andererseits während der Tender-Ausschreibungen so viel Schmiergeld erhalten konnte.
Die Aneignung des Staatsvermögens wird als Bereicherung des Präsidenten und seiner Familie angesehen, hat aber auch politische Auswirkung, da Nasarbajew nun auch die Medien besitzt. Leila, zukünftige Ehefrau von Chrapunov, hat eine private TV-Gesellschaft gegründet, sie probierte alle Propaganda selbst aus, bis die Verwaltung der Gesellschaft an Dariga, Nasarbajews Tochter übertragen wurde! Die Letztere hat die Gesellschaft privatisiert und in ein Propagandaorgan des Regimes umgewandelt. «Heute ist 99% der Medien in den Händen von Nasarbajews Familie». Der Präsident hat weitreichende Befugnisse in die Hände seiner Familie gestellt. Der Autor erwähnt den Bruder Bolat und besonders die Töchter des Präsidenten Dariga und Dinara und ihre Ehegatten. Aber es erging ihnen oft schlecht: der Ex-Ehemann von Dariga, Rachat Alijew, rief den Zorn des eigenen Schwiegervater hervor und wurde aus dem Land vertrieben. Er hat 2009 ein Buch «Pate- Schwiegervater» veröffentlicht, in dem er die Korruption, die der Präsident selbst organisiert hat, entlarvt!
Und noch eine komische Entlarvung: um den Oppositionspolitiker Kashegeldinow kalt zu stellen, hat Nasarbajew dem Komitee für nationaler Sicherheit befohlen, dessen persönliche Konten bei schweizerischer Banken auf zu spüren. Das Komitee für nationale Sicherheit fand jedoch keine Unregelmäßigkeiten bei Kashegeldinow, aber ein Privatkonto des Präsidenten mit 84 Mio. CHF. Und das ist nur ein kleiner Teil des verheimlichten Vermögens des Präsidenten, wie der Autor behauptet. Es ging das Gerücht herum, dass dies dem Präsidenten viele Sorgen bereitet hätte und deshalb 2000 ein Gesetz dekretiert hätte, dass seine juristische Immunität lebenslang garantiert!
Die Diktatur entwickelt sich stetig weiter, da Nasarbajew alle möglichen Strategien nutzt, um ein Entstehen der Opposition zu verhindern, darunter gäbe es laut des Autors sogar drei Mordopfer!
Offensichtlich ist es für den Leser schwierig, dem Autor völlig zu vertrauen, weil er sich viele Jahre an der Verwaltung des Landes zusammen mit dem Präsidenten Nasarbajew beteiligte. Seine Sorge über den technischen Fortschritt, worüber der Autor im ganzen Buch immer wieder schreibt, und das Programm, das vom Autor angeboten wird, damit Kasachstan von einer «muffigen Feudaldiktatur zur Demokratie nach dem europäischen Typ übergehen könnte» beweisen jedoch seine Aufrichtigkeit.
Außer einer eigenartigen «Reinigung» seiner Laufbahn, über sie er im Buch schreibt, muss man sagen, dass das Buch interessant ist, weil es von guten Kenntnissen der Region zeugt. Die Situation in Kasachstan stellt eine für alle ehemaligen Sowjetrepubliken typische Situation dar(3): die autokratischen Regimes, wo ein Typus von Staatsoberhaupt herrscht, der immer wieder erneut gewählt wird, der sich auf seinen Klan stützt und die Staatsressource ausbeutet. Es sind Staaten, derer Opposition sich im Embryonalzustand befindet, wo Menschenrechte missachtet werden. Wie Marlene Laruelle und Sebastien Peyrouse(4), die die mittelasiatischen Länder analysiert haben, erklären, spielen alle Führer, die aus kommunistischen Organisationen stammen, alle zusammen «in offenbarem Despotismus“. Sie stellen ihre Autorität als notwendige väterliche Sorge für die Jugend ihres Landes dar, dessen Volk noch nicht für eine Demokratie bereit ist.
Das kasachische Volk, genau wie die Völker anderer postsowjetischer Republiken, beteiligt sich nicht am öffentlichen Leben. Es wird weiter überwacht, hat Angst vor Repressionen, und in seinen Reihen kann keine Gegnerschaft zur Macht entstehen. Die sowjetische Erbschaft ist gerade in diesem Staat wie in allem anderen postsowjetischen Staaten besonders lästig.
Hinweise